Reisekrankheit

synonym: Kinetose, Bewegungskrankheit, Seekrankheit, Schiffahrtskinetose, Luftkrankheit, Flugkrankheit
SymptomeAls Vorstufe treten Müdigkeit, Gähnen, Konzentrationsschwierigkeiten, Kopfschmerzen, Stimmungsschwankungen, Lethargie, und ein erhöhtes Schlafbedürfnis auf. Die eigentliche Reisekrankheit äussert sich akut in Beschwerden wie kalter Schweiss, Blässe, fahle Gesichtsfarbe, Wärme- und Kältegefühl, Mattigkeit, Hyperventilation, schneller Pulsschlag, tiefer Blutdruck, Speichelfluss, Übelkeit, Brechreiz, Erbrechen und Schwindel.
AuslöserDie Reisekrankheit wird von verschiedenen Bewegungsreizen ausgelöst: Bei Fahrten im Auto, mit der Bahn (vor allem in Neigezügen, einem Bus, dem Flugzeug, einem Schiff oder einem Raumschiff, auf der Seilbahn, beim Skifahren, auf der Achterbahn, im Helikopter, in Freizeitparks, auf Jahrmärkten, auf einem Kamel (Wüstenschiff) oder einem Elefant, einer Schaukel, im Rettungswagen. Auch Scheinbewegungen (Pseudokinetose) im Kino, Simulator, bei Computer- / Videospielen oder der Gebrauch einer Virtual-Reality-Brille können sie verursachen. Fische können beim Transport von Aquarien seekrank werden.
UrsachenDie Ursachen sind nicht vollständig geklärt und es gibt mehrere Erklärungsversuche. Gemäss einer der bekanntesten Theorien liegt der Kinetose ein interner Sinneskonflikt zugrunde, der durch zwei oder mehrere nicht übereinstimmende Sinneseindrücke ausgelöst wird. Das visuelle System, das Gleichgewichtssystem und die Eigenempfindung melden uneinheitliche Bewegungen. Liest zum Beispiel jemand im Neigezug ein Buch, meldet der Gesichtssinn eine statische Umgebung, während das Gleichgewichtssystem in den Kurven ein Schaukeln registriert.
Komplikationen- Reisekrankheit in einem Rettungswagen kann ein bestehendes gesundheitliches Problem verschlechtern.
- Verschlechterung der Absorption von Medikamenten durch die Hemmung der Motilität des Magens.
- Kreislaufkollaps
- Empfindlichkeit: Jeder Mensch mit einem gesunden Gleichgewichtsorgan kann eine Kinetose entwickeln. Es gibt jedoch grosse Unterschiede in der individuellen Empfindlichkeit.
- Alter: Säuglinge entwickeln keine Kinetosen. Kinder zwischen 3 und 12 Jahren sind besonders gefährdet. Bei älteren Menschen sind Kinetosen seltener.
- Geschlecht: Frauen (Menstruation, Schwangerschaft)
- Krankheiten: Migräne
- Gerüche
- Alkoholkonsum
- Psychische Faktoren, z.B. Angst
- Unwetter, rauhe See, Turbulenzen
Allgemeine Empfehlungen:
- Sitzen in Fahrtrichtung
- Keinen Alkohol zu sich nehmen
- Selbst das Steuerrad oder -ruder übernehmen: Reisekrankheit betrifft fast ausschliesslich die Beifahrer.
- Starke Gerüche meiden
- Kopfbewegungen vermeiden
- Kontrollierte, regelmässige Atmung
- Bei konstanter Exposition tritt eine Gewöhnung ein (Schiff: 2-4 Tage). Sie kann auch durch spezifische Trainings erreicht werden (Astronauten, Soldaten, Piloten).
Auto und Bus:
- Vorwärts fahren und geradeaus in Richtung der Fahrbahn blicken. Nicht lesen und nicht aus dem Seitenfenster schauen. Kontrolliert und regelmässig atmen. Gute Fahrtechnik, kein schnelles "Stop and Go".
- Beim Auftreten von Symptomen den Kopf nicht bewegen, sondern gegen die Kopfstütze pressen.
Schiff:
- Mit den Augen den Horizont oder die Küste fixieren.
- Bei grossen Schiffen Aufenthalt in der Schiffsmitte, da dort die Bewegungen geringer sind. Eine Kabine mit Fenster auswählen.
Flugzeug:
- Sitzplatz in der Nähe der Tragflächen
Antihistaminika der 1. Generation:
- Dimenhydrinat ist in zahlreichen Präparaten enthalten, unter anderem in Trawell®. Der Wirkstoff ist eine Kombination von Diphenhydramin (z.B. Benocten®) und Chlorotheophyllin. Chlorotheophyllin ist ein Stimulans, das zugesetzt wurde, damit unter der Behandlung weniger Müdigkeit auftritt. Das bekannte Dramamine® (ausser Handel) enthielt ebenfalls Dimenhydrinat. Die Anwendung muss nach 1-3 Stunden (Kaugummi) oder 4-6 Stunden (Tabletten) wiederholt werden.
- Dimetindenmaleat (Feniallerg® Tropfen) ist ebenfalls ein Antihistaminikum der 1. Generation und kann Kindern verabreicht werden (Off-Label-Use!).
- Meclozin (Itinerol B6®) ist in der Schweiz in der Kombination mit Coffein und Pyridoxin (Vitamin B6) im Handel. Coffein wird gegen Müdigkeit zugesetzt. Meclozin hat eine lange Wirkdauer von 12-24 Stunden.
- Cyclizin (Marzine®, ausser Handel)
- Buclizin (Longifene®, ausser Handel)
- Scopolamin gehört zu den wirksamsten Mitteln gegen Reisekrankheit. In der Schweiz ist derzeit aber kein Präparat mehr erhältlich, das transdermale Pflaster Scopoderm® ist ausser Handel. In anderen Ländern ist es noch auf dem Markt (USA: Transderm Scop®). Das Pflaster wird 4-8 Stunden vor der Reise aufgeklebt und wirkt während 72 Stunden. Zu den unerwünschten Wirkungen gehören Mundtrockenheit, Harnverhaltung, Sehstörungen und Müdigkeit. Eine transdermale Applikation ist nicht unbedingt notwendig, Scopolamin kann unter anderem auch oral, nasal oder sublingual appliziert werden.
- Cinnarizin (Stugeron®, Generika) hat antihistamine und antivasokonstriktorische Wirkungen und verbessert die Mikrozirkulation des Gehirns. Es soll weniger müde machen als die Antihistaminika.
- Ingwer (z.B. Zintona®, Ingwer als Arzneidroge (Tagesdosis 4 g) oder Ingwer-Zeltli, Ingwertee, kandierter Ingwer). Zintona® wird eine halbe Stunde vor Reisebeginn eingenommen und anschliessend alle 4 Stunden (je 500 mg Ingwerpulver).
Placebo:
- zeigt in klinischen Studien eine gute Wirksamkeit
Die folgenden Wirkstoffe sind wirksam, aber nicht gut verträglich, für diese Indikation nicht zugelassen und können abhängig machen:
- Sympathomimetika: Amphetamin, Methamphetamin, Methylphenidat (Ritalin®), zum Beispiel im Militär
- Benzodiazepine und Barbiturate
- Droperidol
- Opioide
Homöopathika und Anthroposophika wie Cocculine®, Cocculus-Homaccord®, Nausetum®, Similasan® Reisebeschwerden, Wala Aurum Valeriana Globuli velati, Weleda Nausyn® (aH):
- Anamirta cocculus
- Cephaelis ipecacuanha
- Cerium oxalicum
- Hyoscyamus niger
- Mandragora
- Nicotiana tabacum
- Petroleum
- Strychnos nux vomica
- Theridion curassavicum
Akupunktur und Akupressur:
- Sea Band® Armband für Erwachsene oder Kinder
Die folgenden Wirkstoffe sind gemäss Literatur unwirksam:
- Dopaminantagonisten (z.B. Domperidon, Motilium®) und Serotoninantagonisten
- Antihistaminika der 2. Generation wie Fexofenadin und Cetirizin, wahrscheinlich weil sie nicht zentral wirksam sind.
- Flunarizin (Sibelium®)
- Betahistin (Betaserc®, Generika)
- Bei der vorbeugenden Einnahme ist zu beachten, dass die Medikamente je nach Präparat eine halbe bis eine Stunde, mehrere Stunden oder bereits am Vortag angewendet werden müssen.
- Reisekaugummis (Dimenhydrinat, Trawell®) werden bei den ersten Anzeichen während 3-10 Minunten gekaut. Sie können auch vorbeugend gekaut werden.
- Die Wirkdauer der einzelnen Wirsktoffe muss beachtet werden. Je nach Dauer der Reise ist eine wiederholte Einnahme nach einigen Stunden notwendig. Meclozin hat eine lange Wirkdauer von 12-24 Stunden.
- Antihistaminika und Parasympatholytika machen müde. Zudem müssen die Kontraindikationen, Interaktionen und die weiteren möglichen unerwünschten Wirkungen beachtet werden.
- Der Konsum von Alkohol soll vermieden werden, weil er die unerwünschten Wirkungen der Medikamente verstärkt und die Kinetosen verschlimmert.
Antihistaminika, Dimenhydrinat, Meclozin, Ingwer
Literatur- Arzneimittel-Fachinformation (CH)
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- http://www.transdermscop.com
- Hein T. Ein ganz, ganz übles Thema. Die Zeit, 04.12.2008, Nr. 50
Interessenkonflikte: Keine / unabhängig. Der Autor hat keine Beziehungen zu den Herstellern und ist nicht am Verkauf der erwähnten Produkte beteiligt.