Schoppen aus der Kapsel
Update: Mittlerweile ist BabyNes® in der Schweiz nicht mehr im Handel.
Es gehört zu den grossen Paradoxa unseres Lebens: Obwohl das Alltägliche heute viel schneller erledigt ist, zum Beispiel das Zugfahren, Schreiben oder Essen, haben wir das unangenehme Gefühl, immer weniger Zeit zu haben. Eigentlich sollte es genau umgekehrt sein. Und doch sind Begriffe wie Stress, hektischer Alltag und „Quality Time“ zu Allgemeinplätzen geworden.
Wer ein Produkt erfindet, mit dem sich bei wiederholten Tätigkeiten Zeit einsparen lässt, kann deshalb eine Menge Geld verdienen. Denn es ist unser aller Bedürfnis, vom wertvollen Gut Zeit so wenig wie möglich auszugeben.
Vor einigen Jahren hat Nestlé mit den Nespresso®-Kaffeekapseln ein solches Produkt lanciert. Früher wurde Kaffee „gekocht“, was an sich schon auf einen langwierigen, komplizierten und fehleranfälligen Ablauf hindeutet, der in einer Küche stattfinden muss. Heute wird heisses Wasser durch eine Kapsel gepresst und die schwarze Brühe ist innert Sekunden überall und jederzeit bereit. Möglichst schnell, sauber und bequem muss es gehen.
Nestlé hat erkannt, dass die Handhabung des Pulvers das Hauptproblem bei der Kaffeezubereitung darstellt. Denn das Pulver kann verschüttet werden und muss als feuchter Rest entsorgt werden. In Büros wird kompliziert geregelt, welcher Mitarbeiter wann die verdreckte Maschine putzen muss. Durch die Bändigung des Pulvers in die Kapsel hat der Nahrungsmittelkonzern den Prozess vereinfacht, beschleunigt und sterilisiert. Für diese Veredelung – die allerdings auf Kosten der Sinnlichkeit geht – ist der Konsument gerne bereit, einige Zentimeter tiefer ins Portemonnaie zu greifen.
In einer Art Ausweitung der Kampfzone hat Nestlé kürzlich in der Schweiz das sogenannte BabyNes®-Ernährungssystem in den Handel gebracht. Der Schoppen aus der Kapsel. Die BabyNes®-Maschine ist eine Milchmaschine, die auf Knopfdruck und in einer Minute einen warmen Schoppen mit altersgerechter Milchnahrung herstellt. Die Kapseln verfügen sogar über einen integrierten Bakterienfilter.
Das Prinzip bleibt dasselbe. Die Eltern sparen Zeit und Mühe, weil sie das Wasser nicht mehr abkochen und temperieren, das Pulver nicht mehr abmessen und die Temperatur auf dem Handgelenk überprüfen müssen. Im eigentlichen Sinn findet zwischen dem Unternehmen und dem Verbraucher ein Tausch von Zeit gegen Geld statt. Man muss davon ausgehen, dass das (teure) Produkt ein Erfolg werden wird. Denn in ihrem „hektischen Alltag“ gewinnen nach den Kaffeetrinkern nun auch die Mütter und Väter etwas Zeit.
Oder nicht? Denn vielleicht ist es gerade die objektive Beschleunigung des Alltags, die subjektiv den Eindruck hinterlässt, weniger Zeit zu haben. Das wäre die unerwartete Auflösung unseres Paradoxons. Je schneller sich alles dreht, desto schneller scheint unsere eigene Zeit davonzulaufen. Desto schneller rennen wir hinterher. Wenn wir uns für nichts mehr - nicht einmal für unsere Kinder - Zeit nehmen, haben wir schliesslich keine mehr.
siehe auchInteressenkonflikte: Keine / unabhängig. Der Autor hat keine Beziehungen zu den Herstellern und ist nicht am Verkauf der erwähnten Produkte beteiligt.